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    Every Single Street | Stade | Das Finale

    Lesezeit: ca. 10 Minuten

    Eine. allerletzte. Straße.

    670 Straßen sind genau 99,85%. Nummer 671 ist übrig. Hinter der Schranke. Und das seit einem Jahr. Manchmal habe ich zwischendurch daran gedacht. Der Weg dorthin schien versperrt und trotzdem ist alles plötzlich ganz schnell gegangen.

    Ein Plädoyer, warum es sich lohnt, dranzubleiben. Und es nicht schlimm ist, wenn etwas mal nicht klappt.

    Seid begeistert.

    Ich rechne immer genau aus, wie viel Prozent meines Langzeitlaufprojekts ich bereits geschafft habe. Manche Menschen verstehen das nicht und finden, das ganze Projekt sei verschenkte Zeit und ich solle mal lieber etwas Nützliches machen. Ich finde, das ist im Grunde eine ganz schön traurige Aussage, weil in ihr so wenig Begeisterungsfähigkeit und Neugier steckt.

    Foto: J. Dammann/ Kreiszeitung Wochenblatt

    Etwas Nützliches – da bekomme ich ja direkt ne Gänsehaut. Abgesehen davon, dass natürlich sowieso nicht jeder Nutzen in bare Münze umzurechnen sein muss, reicht es doch, wenn einem etwas ganz einfach Spaß macht. Nichts aufrechnen, nichts vergleichen, einfach Spaß. Mir gefällt, was ich tue. Keine Minute davon ist verschenkt.

    Erst letztens fuhr ein älteres Paar mit dem Rad an mir vorbei. Als sie auf meiner Höhe waren, wurde der Mann etwas langsamer und fuhr einfach eine Weile neben mir her. Währenddessen haben wir uns ein bisschen unterhalten und er erzählte mir eine kleine Anekdote, die er früher als Busfahrer mal mit nem Läufer erlebt hat. Ich musste tatsächlich kurz lachen, wir wünschten uns einen schönen Tag und nach einigen Minuten war die Begegnung auch schon wieder vorbei.

    Und überhaupt: Wie sollen schöne Erlebnisse denn verschenkte Zeit sein? Genau, gar nicht.

    Hinter der Schranke.

    Warum denn genau dahinter? Ich war wirklich überall in dieser Stadt und an dieser einen Straße sollte es nun scheitern? Der Gedanke gefiel mir nur so mittelgut. Nachdem ich im März ’21 ja die vermeintlich letzte Straße gelaufen bin, bekam ich in den Monaten danach ein wenig Distanz zu meinem Projekt. Das war auch ganz gut, weil ich dadurch erst so richtig merkte, was ich da getan habe.

    Manche Dinge brauchen einen Moment, bis sie so richtig in einem selbst ankommen. Der wirkliche Umfang meiner vielen Läufe und Kilometer war mir gar nicht so bewusst, während ich noch unterwegs war. Klar, ich hatte schon nen genauen Überblick, aber irgendwie fehlte zu der Zeit noch der Durchblick.

    In der Zeit nach Nr. 670 beschäftigte ich mich ein bisschen mit der Hardware zum Projekt. Ich schrieb ja bereits einmal, dass ich es mag, etwas in der Hand zu halten, das eine Verbindung zu den Dingen schafft, die ich so unternehme. So ist schon das eine oder andere entstanden.

    Fast 500 km² auf 70x70cm

    Zu Every Single Street hatte ich auch direkt etwas im Kopf. Ich wollte eine wirklich große Heatmap haben. Für an die Wand und aus Metall, mit wirklich allen noch so kleinen Details. Das war echt nochmal n ganz eigene Geschichte und gar nicht so einfach umzusetzen. Aber das Ergebnis gefällt mir. Nebenbei hab ich im Herbst ’21 diesen Blog gestartet. Daran gedacht hab ich schon seit einigen Jahren immer mal wieder. Und jetzt dann einfach gemacht.

    Die letzte Straße war trotzdem immer da. Am Seehafen. Und irgendwie hab ich geahnt, dass es so ausgehen würde. Ich kenn mich ja. Challenge accepted.

    Hunde, die bellen, beißen nicht.

    Ich habe auf den zigtausend Kilometern durch Stade wirklich die unterschiedlichsten Begegnungen erlebt. Manche Menschen waren etwas verwirrt, weil ich bei ihnen über’s Grundstück gelaufen bin. Aber bevor sie wussten, was los war, war ich häufig schon wieder weg. Sorry Leute, ich habe nicht Euer Viertel ausgespäht. Ihr lagt nur zufällig auf meinem Weg.

    Manche Strecken führten hin und wieder auch mal über nen Bauernhof. Und so stand ab und zu der ein oder andere Hofhund vor mir. Aber alte Regel: Hunde, die bellen, beißen nicht. Bisher stimmt das. Und wenn’s manchmal auch bedrohlich wirkte, dachte ich mir, dass die Hunde bestimmt nicht frei auf dem Hof laufen würden, wenn sie Lust hätten, mich wirklich zu beißen. So haben wir uns immer gut verstanden und manchmal haben sie mich sogar noch ein Stück begleitet.

    Wem ich aber nicht getraut hab, war eine Gans auf einem Pferdehof. Die war richtig fies drauf. Stand plötzlich da. Und erst dieser Blick. Okay, nicht in die Augen schauen und einfach weiterlaufen. Das war n Nervenkitzel der anderen Art.

    Wenn der Postmann zweimal klingelt.

    Gelegentlich wurde ich auch für den Postzustellenden gehalten. Naja, ich hab was in der Hand (meine Karte) und bin manchmal bis vor die Haustür gelaufen. Zwar in Laufklamotten, aber trotzdem nicht ganz abwegig die Idee. Manche Leute haben mich schon von weitem auf den Hof laufen sehen und die Haustür geöffnet. Vermutlich, damit ich nicht klingeln muss.

    Ein bisschen enttäuscht waren sie manchmal schon, wenn ich statt eines Briefes nur ein Gespräch anzubieten hatte. Auf diesem Weg kamen aber auch nette Gespräche zustande. Es wurde sich erkundigt, was ich denn genau vorhabe, wie ich auf diese Idee gekommen bin oder wo ich schon überall war. Und ich habe erfahren, was mein Gegenüber schon alles erlebt hat.

    Ich mag’s, mich mit Leuten zu unterhalten. Es wird viel zu sehr durch den Alltag und das Leben gehastet. Viele schöne kleine Geschichten (auf die es doch eigentlich ankommt) bleiben da häufig auf der Strecke und unerzählt.

    Aber man hat es ja selbst in der Hand, das zu ändern. Mich interessiert nicht, ob du ein neues Auto hast. Mich interessiert, was Du erlebt hast.

    Ich brauche ein Boot.

    T. verdreht die Augen, als ich ihr (mindestens halbernst) von meinem Plan erzähle. Am Seehafen. Irgendwie muss ich doch auf dieses Gelände kommen. Die letzte Straße ist tatsächlich genau 1 Kilometer lang. 1 allerletzter Kilometer. Insgesamt bin ich im Laufe der Jahre mehr als 10.000 Kilometer durch Stade gelaufen. Es ist also wie gemacht für ein großes Finale.

    Nur ein kleines Stück

    Ich könnte von der Wasserseite aus kommen.

    T. verdreht wieder die Augen. Das Wissen, dass ich als Nichtschwimmer keinen Fuß in ein kleines, sneakiges Boot setzen würde, beruhigt sie dann vermutlich aber doch etwas. Durch die Vordertür scheint kein Durchkommen. Eine Schranke, davor eine Person, die die Schranke kontrolliert und auch drumherum ist alles dicht. Es ist ein besonders abgeriegeltes Industriegelände, wie ich später erfahren sollte. Sneaky war diesmal also, im Gegensatz zu anderen Situationen, keine Option.

    An dieser Stelle viele Grüße an alle anderen Orte, denen ich im Laufe der Zeit einen unbemerkten Besuch abgestattet habe. Spannend war’s, manchmal wie ein Ninja unterwegs zu sein. Und ein bisschen Spannung gehört ja dazu.

    Aber heißt das wirklich, dass es hier und jetzt gar keine Möglichkeit gibt? Ich finde ja grundsätzlich, dass es erstmal immer irgendeine Lösung gibt. Ich kenne sie in diesem Moment vielleicht nur noch nicht.

    Der Code lautet: ISPS

    Das steht für International Ship and Port Facility Security Code. Und verspricht eher weniger Spaß. Vor allem bedeutet es: Hier geht’s wirklich nicht rein.

    Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht versuchen würde, trotzdem einen Weg zu finden. Ich stehe also zum zweiten Mal vor der Schranke und versuche, mit all meinen Charme durchzuhuschen. Hat nicht geklappt. Bin wohl doch nicht so charmant.

    nicht sehr einladend

    Also Plan B. Es folgen mehrere Telefongespräche und eine schriftliche Anfrage. Daraus entsteht ein sehr netter Kontakt mit dem Geschäftsführer und PFSO, dem Port Facility Security Officer Marcus Schlichting. Ich erzähle ihm von meinem besonderen Projekt und kurze Zeit später teilt er mir mit, dass in meinem Fall eine Ausnahme der strengen Regeln gemacht werden kann.

    Es freut mich immer, wenn ich andere Menschen für etwas begeistern kann. In diesem außergewöhnlichen Fall freut es mich besonders – meinem Finale steht nun nichts mehr im Weg.

    High Noon.

    Es ist 11:00 Uhr vormittags Tim Scholz, der Redakteur des Stader Tageblatts und ich lehnen an einer Leitplanke in der Sonne. Wir unterhalten uns rund 1 Stunde zu meinem Projekt, meiner Geschichte und eben auch zu meiner CED. Er wird später einen langen Artikel darüber schreiben. Auch Jörg Dammann von der Stader Kreiszeitung Wochenblatt berichtet darüber.

    Das ist mir ein besonderes Anliegen, da schließlich alles miteinander zusammenhängt. Ich schreibe übrigens meine CED, weil sie genauso zu mir gehört wie meine Laufschuhe. Ich bin ein Gesamtpaket.

    Foto: J. Dammann/ Kreiszeitung Wochenblatt

    Mittlerweile ist es 12:00 Uhr High Noon. Zeit für’s letzte Duell. Marcus Schlichting holt uns persönlich an der Zufahrt zum Hafen ab. Das ist wirklich sehr aufmerksam und wir unterhalten uns noch eine Weile über meine Idee, durch alle Straßen meiner Heimatstadt zu laufen.

    Nach kurzer Zeit sind wir am Startpunkt angekommen. Große Schiffe liegen mit dicken Tauen festgemacht am Kai. Das gefällt mir. Ich mag es am Wasser. Das hat etwas Beruhigendes. Herr Schlichting erzählt noch die eine oder andere interessante Geschichte zu Allem um uns herum. Viele Dinge wusste ich nicht. Man lernt wirklich jeden Tag etwas Neues.

    Und dann: Geht’s los.

    Der letzte Kilometer.

    Ich starte direkt an der Kaimauer. Schlichting und Scholz fahren im Auto mit Warnblinklicht vor mir her. Das Wetter ist perfekt. Die Umstände auch. Es fühlt sich ein bisschen verrückt an, nach abertausenden einsamen Kilometern nun so ein großartiges Finish zu erleben. Und ermöglicht zu bekommen. Es fühlt sich an, als wäre ich auf meiner eigenen Parade zu Gast.

    Ich laufe die letzte Straße, die allerletzten 1.000 Meter, und in diesen nicht mal 5 Minuten denke ich, wie schnell plötzlich alles ging. Ich bin gefühlt doch erst gestern zu meinem Projekt aufgebrochen. Jetzt ist die letzte Lücke Am Seehafen geschlossen. Am Ziel freuen sich alle mit mir und Marcus Schlichting sagt etwas, über das ich später noch eine Weile nachdenke: Sie haben jetzt ein echtes Alleinstellungsmerkmal.

    Foto: T. Scholz/ Stader Tageblatt

    Das stimmt. Ich glaube, jeder Mensch hat ein Alleinstellungsmerkmal. Manchmal hat man es bisher vielleicht einfach nur noch nicht entdeckt. Aber das läuft ja nicht weg. Im Gegensatz zu mir, denn mein Weg ist hier für heute noch nicht ganz zu Ende. Vor mir liegen noch einige Kilometer zurück nach Haus. Und ich bin total zufrieden, dass ich das alles erleben konnte.

    Es ist geschafft

    Übrigens: Tim Scholz hat eine weitere Geschichte über einen anderen Menschen mit einer bewegenden Geschichte (PDF) geschrieben, für die er 2019 auszeichnet wurde. Lesenswert.

    Was bleibt?

    Hab ich je daran gezweifelt, dass ich es schaffen kann? Auf keinen Fall. Wäre es schlimm gewesen, wenn ich es nicht geschafft hätte? Absolut nicht.

    Ich glaub, das ist vielleicht auch schon das ganze Geheimnis. Hätte ich nur die Hälfte meines Vorhabens geschafft, dann hätte ich ja trotzdem total viel erlebt. Es ist ja nicht so, dass ich dann mit leeren Händen dagestanden wäre.

    Häufig wird um einen herum das Gefühl vermittelt: Ganz oder gar nicht. Sei es von anderen Menschen, Medien, Werbung oder was auch immer. Aber andere Menschen sind nicht ich. Und sie sind auch nicht Du. Ihre Vorstellungen sollen und dürfen einen nicht davon abhalten, etwas zu tun, dass einen glücklich macht.

    Du hast Lust, irgendetwas Cooles zu starten, an das Du schon lange denkst? Etwas, das Dir einfach Spaß macht? Na dann los. Das ist eine dieser Gelegenheiten, um glücklich zu sein. Man kann dabei nur gewinnen, denn Dinge sind genauso schön, auch wenn sie vielleicht nicht zu 100% perfekt sind. Wenn man immer nur etwas tun würde, von dem man weiß, dass man es kann, würde man vermutlich nie etwas Neues ausprobieren.

    Es ist nicht der Haken hinter meiner Liste, der Every Single Street für mich zu etwas Besonderem macht. Es ist jedes einzelne Mal, dass ich dafür draußen war. Jede Sonne, jeder Regen, jeder Schnee und jede Gelegenheit, etwas zu erleben.

    Was ich jetzt mache? Mal schauen, worauf ich als nächstes Lust habe. Mir fällt bestimmt etwas ein. Also vielleicht entdeckt man mich bald wieder auf der Suche nach den kleinen Abenteuern des Alltags. Sag Bescheid, wenn Du mich siehst – vielleicht laufen wir ja sogar mal n Stück zusammen.

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