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    Every Single Street | Stade | Die Mission

    Lesezeit: ca. 10 Minuten

    Die Schuhe sind geschnürt. Die ersten Routen geplant. Ich bin startklar.

    Stade und seine Straßen ziehen sich gefühlt ganz schön in die Höhe und Breite. Manche Stadtteile liegen ne ganze Ecke von meiner Homebase entfernt. Und trotzdem, oder gerade deswegen, hab ich richtig Bock auf jede einzelne Straße. Es hat n bisschen was von ner Mission. Tür zu, Uhr an, los.

    Norden. Süden. Osten. Westen.

    Rund n Dutzend Stadtteile hat Stade. In fast allen davon hab ich als Kind schon einmal gewohnt. In manchen sogar mehrfach. Das war eine wirklich chaotische Zeit damals und teilweise sind wir mehrmals pro Jahr umgezogen. So etwas hinterlässt Spuren. Jetzt bin ich gespannt, wie wohl alles nach einigen Jahrzehnten aussieht. Ob es sich sehr verändert hat und ob ich alle Ecken wiedererkenne?

    Ich hab alles wiedererkannt. Sogar Orte, an die ich bestimmt 30 Jahre nicht mehr gedacht hab. Scheinbar vergisst man wirklich nichts, sondern verschüttet es nur irgendwo in der Erinnerung. Es war ein bisschen wie die versteckte Schachtel bei Amelie. Mir fallen plötzlich Geschichten ein, die ich an vielen dieser Orte erlebt habe. Manche waren nicht so cool, aber oft muss ich kurz lachen, als ich mich erinnere.

    Ich war immer ein abenteuerlustiges Kind und habe alles nach genau ausgetüftelten Ideen erforscht und ausprobiert. Zum Glück hab ich mir das bis heute bewahrt. Sich nicht mehr für etwas begeistern zu können oder noch schlimmer, seine Neugierde zu verlieren, ist doch eine furchtbare Vorstellung. Und die Vorliebe für Pläne hat scheinbar bereits schon immer einen festen Platz in meiner DNS.

    Tesafilm und Filzstift.

    Ach ja, die Planung. Manche haben Ihre Routen ja auf dem Handy dabei, andere auf der Uhr, ich auf nem Zettel. So’n richtig echtes Stück Papier. Und das funktioniert (fast) immer perfekt. Ich hab keine Lust, mein Handy die ganze Zeit in der Hand zu halten und auf der Uhr wär’s definitv zu klein, um irgendwas erkennen zu können.

    Also plane ich meine Strecken zuerst online und im Anschluss male ich alle wichtigen Spots, Abbiegungen, hilfreiche Details oder Hausnummern in die Karte. Dann wird das Ganze ausgedruckt. Das funktioniert gut. Mindestens so lange, bis es mal richtig regnet. Vor einigen Tagen wurde meine Karte komplett nass und sah nach wenigen Minuten aus wie ein wunderschönes Aquarell. Hübsch, aber leider total nutzlos.

    Eine gemeinsame Reise

    Die nähere Umgebung hab ich in einer großen Karte zusätzlich per Hand aufgezeichnet. Ich hab die Heatmap aus x Einzelteilen zusammen geklebt und alle neuen Straßen mit nem Filzstift ausgemalt. Bisschen nerdig, aber funktioniert. Heute ist die Karte ein schönes Erinnerungsstück an die Anfänge des ganzen Projekts.

    Es ist übrigens erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt, auch in voller Geschwindigkeit eine Karte zu lesen. Meine Augen blicken nur ab und zu auf, während ich die Karte in der Hand genau im Blick habe. Die Beine laufen von alleine. Das ist n bisschen wie Rallye fahren.

    Die CED im Rucksack.

    Mit ner chronischen Erkrankung ist man nie allein unterwegs. Weder bei der ersten noch der letzten Straße. Das ist natürlich nicht immer die schönste Gesellschaft, aber auch nicht die schlechteste, wie ich finde. Ich war schon mit Leuten unterwegs, die waren schlimmer als ne Colitis mitten in nem Schub. Wirklich wahr.

    Meine CED gehört zu mir und ist ein Teil meines Lebens. Sie als etwas von sich anzunehmen, ist glaube ich ein essentieller Punkt für ein zufriedenes Leben. Das ist natürlich nicht immer so easy wie es klingt, gerade wenn die Erkrankung dem Leben so richtig in den Arsch tritt. Aber die Akzeptanz lohnt sich, wenn man sich einmal darauf einlässt. Und was hast du zu verlieren?

    So’n Rucksack ist natürlich nicht immer leicht und kann manchmal sogar eine unbeschreibliche Last sein. Er kann einen fast erdrücken. Man liegt völlig erschöpft am Boden und kommt keinen Zentimeter weiter. Aber wenn man ein paar der eigenen Erwartungen an sich selbst aus dem Rucksack heraus nimmt, wird er direkt leichter. Man bekommt wieder Luft und kann weitergehen. Oder laufen.

    Ich lese manchmal, dass andere Menschen schreiben, täglich gegen Ihre chronische Erkrankung anzukämpfen. Ich glaube, dass das kein guter Weg ist. Man kann diesen Kampf ja nicht gewinnen. Und muss es auch gar nicht. Man sollte sich selbst die Gelegenheit geben, sich genau so zu mögen, wie man ist. Ein bisschen krank, ein bisschen kaputt oder vielleicht ein bisschen anders als Andere. Man darf ruhig glücklich mit sich selbst sein. Man muss nicht perfekt sein. Niemand ist das.

    Viele fragen sich: Warum ich? Ich denke mir: Warum gerade ich denn nicht?

    Ich persönliche denke Folgendes: Der Körper besteht aus ungefähr 1 Million Teilen. Es ist also gar nicht so ungewöhnlich, wenn ein Teil irgendwann nicht mehr richtig funktioniert. Dann lass es uns flicken und weiter geht’s. Vielleicht läuft’s manchmal etwas rumpeliger als vorher. Aber es läuft und das ist es, was zählt.

    Wellenreiten.

    Auf meinen Touren laufe ich nicht Stadtteil für Stadtteil ab. Ich glaube, das wäre mir zu langweilig. Vielleicht möchte ich ja heute in die genau andere Richtung als letztes Mal. Es sind zum Start so viele Straßen auf meiner Liste, dass ich eigentlich jeden Tag woanders laufen und trotzdem immer etwas abhaken kann. Oft muss ich in jeden Stadtteil xmal, da meine Routen sonst vermutlich jedes Mal n Marathon wären.

    Ich laufe also meine Karte ab, hoffe, dass ich mich nicht verlaufe und entdecke unterwegs immer neue Ecken, die ich am liebsten direkt als nächstes klar machen will. Eine Zeit lang ist das wie in nem Dauerflash.

    Planen – laufen – heimkehren – nächster Plan – weiter laufen. Das ist eine richtig gute Zeit.

    Ob’s manchmal auch zäh läuft? Na klar. Dann ist mein Körper unglaublich schwer und ich frage mich, wie ich überhaupt jemals laufen konnte. Ein kranker Sack Zement, aus dem die letzte Kraft heraus rieselt. Gefühlt kostet jeder einzelne Schritt die doppelte Energie. Oder in einem Schub, wenn die Colitis aktiv und wirklich bösartig ist. Dann sitze ich mit Schmerzen an der Straße auf dem Kantstein, kann keinen Schritt mehr gehen und hoffe, dass ich bald wieder aufstehen kann.

    Aber ich bin ein hoffnungsloser Optimist und glaube fest, dass es bald wieder bergauf geht. Und so ist es auch. Das Leben verläuft in Wellen und nach nem Tief geht’s auch wieder hoch. Daran denke ich und freue mich darauf, dass es weitergeht.

    Feld, Wald und Flur.

    Zwischendurch lege ich nun auch immer mal wieder extra Abstecher ein, um Lücken zu schließen, die keine echten Straßen sind. Jetzt will ich alles von der Karte – inklusive Dessert. Der Liste, die mir die Stadt anfangs zur Verfügung gestellt hat, lagen nämlich auch Wirtschaftswege und Flurstücke bei. Das ist natürlich n gefundenes Fressen für mich.

    Manchmal ist das ein richtiges Suchspiel. Ich hab nur nen wirklich kleinen Ausschnitt und ne ungefähre Ahnung, wo das sein könnte. Und dann wird gesucht, Karten übereinander gelegt und ganz genau verglichen. Flurstücke sind irgendwie immer mitten im Nichts. So wird diese Extra-Challenge unerwartet tatsächlich zu einer doppelten Herausforderung.

    Es grünt so grün.

    Nach und nach kann ich hinter immer mehr Straßen n Haken machen. Meine Liste wird grüner und grüner. Ab und zu ist eine der 20 Seiten komplett geschafft, was schon ein gutes Gefühl ist. Einen Stadtteil komplett abgeschlossen zu haben, ist dann auch wirklich immer ein Meilenstein.

    Die Heatmap wird immer detaillierter und mittlerweile erkennt man gut die nun immer kleiner werdenden noch weißen Flecken auf der Karte. Meine Motivation ist immernoch riesig. Langsam geht’s an die wirklich abgelegenen Bezirke im Norden und Westen. Das wird bestimmt nochmal ne ganz eigene Nummer.

    Die Deichstraße in Bützfleth zum Beispiel ist viel länger als vermutet und führt zusätzlich noch in eine Richtung immer weiter vom Ziel entfernt. So verdoppelt sich jeder Umweg und der Weg zurück nach Haus wird länger und länger. Am Ende sind es fast 30 Kilometer, die ich an diesem Tag unterwegs bin. War anstrengend, hat aber trotzdem Spaß gemacht. Es geht in den nächsten Monaten noch einige Male nach Bützfleth, um auch diesen Stadtteil im Sack zu haben.

    An diesem Tag allerdings laufe ich auf dem Rückweg auch durch die Johann-Rathje-Köser-Straße, die an einer bewachten Schranke endet. Sperrgebiet. An dem Punkt geht’s nicht weiter. Welche Bedeutung die Straße hinter der Schranke einmal haben würde, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

    Ein paar Bereiche hab ich, manche bewusst und andere unbewusst, immer ein bisschen hinten an gestellt. Es gibt Straßen, da ist halt einfach gar nichts. Am Anfang vielleicht noch einige Häuser, aber sonst eben wirklich nichts. Am trostlosesten ist es, wenn so ne Straße einige Kilometer lang ist und plötzlich einfach endet. Im Nichts. Dann heißt’s umdrehen und alles wieder zurück. Das hat dann fast schon was meditatives und man hat viel Zeit mit sich selbst.

    Irgendwo im Nirgendwo.

    Ich hab ja schon mal geschrieben, dass ich dazu neige, mich zu verlaufen. Und das ist noch geschmeichelt. Ich bin mir oft total sicher, dass es hier oder da ganz bestimmt links statt rechts lang geht. Genauso oft liege ich allerdings auch falsch und laufe so in die wildesten Situationen.

    In Wiepenkathen bin ich mir zum Beispiel ganz sicher, dass die Straße Forth Trift der Weg quer durch den Wald in den Ort Schwinge ist. Tja, leider falsch. Es ist der Weg quer durch mitten in die Schwinge, den Fluss, der durch Stade fließt.

    Meine Orientierung: Top

    Ich laufe also durch die Felder, bis ich plötzlich am Fluss angekommen bin. Und dann bis zu den Knöcheln drin stehe. Ich laufe noch ein Stück den Fluss entlang, weil ich sicher bin, dass es bestimmt irgendwo ne Brücke geben muss. Die war letztes Mal ja schließlich auch da.

    Natürlich ist da keine Brücke und so drehe ich nach einiger Zeit um und laufe mit nassen Füßen nach Hause. Wieder was gelernt. Ach ja, der richtige Weg ist übrigens nur 350 Meter weit entfernt. Über sieben Brücken musst du gehn, wusste schon Karat. Mir hätte heute schon eine gereicht.

    Auf der Zielgeraden.

    Es geht immer weiter. 70%. 80% vollständig. Die Wochen und Monate vergehen. So langsam fühlt es sich nach Endspurt an. 20% offen sind zwar immernoch rund 150 Straßen, aber nun erscheint der Rest plötzlich ganz leicht. Es ist wie auf der Zielgeraden.

    Von Zeit zu Zeit ist die Colitis mein treuer und maulender Begleiter. Oder grätscht mit gestrecktem Bein dazwischen. Während meines Projekts stecke ich lange Zeit in einem teilweise wirklich zermürbenden und schweren Schub, der am Ende 2 Jahre dauern sollte und erst seit einigen Monaten überstanden ist. Sobald es irgendwie möglich ist, stecke ich trotzdem in meinen Laufschuhen.

    Es ist also häufig n fifty-fifty Ding, wie weit ich an diesen Tagen laufen kann. Vielleicht 30 Kilometer. Vielleicht auch nur 500 Meter. Möglicherweise auch gar nicht. Der Körper gibt einem schon unmissverständlich zu verstehen, dass man da grad auf’m Holzweg ist. Der Bauch klingt, als hätte man 5 Liter Wasser getrunken, einem ist übel oder man hat echt brutale Schmerzen bei jedem Schritt. Ne CED ist da schon kreativ und überrascht einen immer wieder auf’s Neue. Wie ein Horrorclown. Bleib lieber zu Hause Freundchen.

    Aber das ist ok. Mir läuft ja nichts davon. Weder das Ziel, noch die Zeit. Ich habe das Ganze gestartet, um Spaß zu haben. Und den hab ich. Spätestens, wenn’s weitergeht.

    Die letzte Straße.

    Jedes Mal, wenn ich nun unterwegs bin, überlege ich kurz, welche Straße wohl meine letzte sein wird. Oder sein sollte. Im Grunde ist das ja total egal, aber es ist eben doch auch etwas Besonderes. Ich laufe lieber längere als kürzere Distanzen – meine Wahl für das vorläufige Finale fällt also auf die Süderstraße, oben im Nordwesten der Stadt.

    Diese letzte Strecke bietet dann nochmal alles. Ich laufe bei Sonnenschein und 4°C los. Kurzehosenwetter. Aber nach nicht mal 2 Kilometern schlägt das Wetter plötzlich wie aus heiterem Himmel um. Willkommen in Norddeutschland. Es wird richtig stürmisch. Natürlich kommt der Sturm von vorn, so wie es sich gehört. Und da Sturm allein vermutlich n bisschen eintönig ist, folgt nun: Hagel. Mitten ins Gesicht. Das fühlt sich immer an wie tausend kleine Nadeln. In der nächsten Zeit wechselt sich dann alles einmal ab. Sonne, Sturm, Hagel, dann wieder Sturm und zum Schluss scheint wieder die Sonne. Großartig. Irgendwie mag ich es, wenn man von Allem was mitnimmt. Das ist wie n All-Inclusive-Paket mit maximalem Erlebnisfaktor.

    Die Süderstraße ist das letzte Stück meiner Strecke. Und meines ganzen Projekts. Als ich so darüber nachdenke, ist es im ersten Moment ein eigenartiges Gefühl. Ich hab doch grad erst angefangen. Wenn man etwas tut, das man mag, merkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht. Ich merke, wie es von allein läuft. Das ist der beste Moment beim Laufen finde ich. Du läufst und läufst und denkst gar nicht mehr darüber nach. Der perfekte Flow.

    Ich kann das Ende der Straße sehen. 12 Kilometer waren’s heute. 670 von 670 Straßen. Alles geschafft.

    Oder etwa doch nicht?

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